Quartiersversorgung der Zukunft

Klimaneutral und kostengünstig in der "Neuen Weststadt" in Esslingen
Strom und Wärme für den Stadtteil stammen aus grüner Energie und lokale Speicher sorgen für ein hohes Maß an Autonomie und Flexibilität.

Zahlen & Fakten

Anwendungsgebiet:
Energieversorger und Energiedienstleister
Spezielle Lösung:
Kraft-Wärme-Kälte-Kopplung
Land:
Deutschland
BHKW:
agenitor 406 H2
el/th Leistung (kW):
150 kWel / 172 kWth
Betreiber:
Neue Weststadt Klimaquartier

Die künftige Quartiersversorgung ist klimaneutral – und kostengünstig. Was visionär klingt, wird in der „Neuen Weststadt“ (auch LOK.West genannt) in Esslingen am Neckar gerade Wirklichkeit. Dort setzen Städteplaner und Energieexperten ein Konzept um, das als Blaupause für eine ökologische und ökonomische Stadtteilversorgung dienen soll. Strom und Wärme für den Stadtteil stammen aus grüner Energie und lokale Speicher sorgen für ein hohes Maß an Autonomie und Flexibilität.

 

Über 500 Wohnungen, einige Ladenlokale, ein Bürohochhaus mit zwölf Geschossen und ein Campus für etwa 1800 Studierende werden nach Fertigstellung auf dem Gelände am Neckar stehen. Die ersten Wohngebäude im Süden des Areals sind bereits errichtet und bezogen, die restlichen sollen bis 2022 fertig werden.

 

Klimaschutz, der bezahlbar bleibt
Was das Energiekonzept der Neuen Weststadt besonders macht, sind

  • der Fokus auf eine kostengünstige, nachhaltige Versorgung,
  • die gleichzeitige Planung von Erzeugungsund Verbraucheranlagen
  • und die ganzheitliche Betrachtung der Sektoren Strom und Wärme unter Einbeziehung der Mobilität.


Im Vordergrund steht, den Energiebedarf maßvoll zu senken und den verbleibenden Bedarf klimaneutral zu decken. Es geht also nicht um ein Ausreizen aller Energiesparmöglichkeiten – das macht den Klimaschutz bezahlbar. Der Einsatz regenerativer Energie zur Deckung des Restbedarfs sichert die Klimaneutralität und ist auf lange Sicht preiswerter, als den Verbrauch durch teure Energiesparmaßnahmen weiter zu senken.

 

Zur Umsetzung ist ein Mix aus Energieträgern bzw. -anlagen und Energiespeichern erforderlich. Der Strom stammt aus lokalen, dachmontierten Photovoltaik-Anlagen (PV) oder wird als grüner Strom eingekauft. Wärme entsteht mit Ökogas oder – indirekt, wie weiter unten erläutert wird – ebenfalls aus grünem Strom.

 

Batterien speichern Überschussstrom und die Bereiche Strom und Wärme sind gekoppelt. Doch während andere Konzepte diese Kopplung als Power-to-Heat mit Elektroheizstäben oder mit Wärmepumpen herbeiführen, werden die Sektoren bei der Energiezentrale für den Wohnblock D mit 167 Wohneinheiten, das Bürohaus und die Uni-Gebäude anders verschmolzen.

 

Lokale Sektorkopplung mit grünem Wasserstoff
Die neue Energiezentrale produziert mit einem unterirdisch aufgestellten Elektrolyseur aus regenerativ erzeugtem Strom grünen Wasserstoff. Dieser bildet einen „Gasspeicher“, der Stromerzeugung und Energieverbrauch entkoppelt, denn das Gas lässt sich zeitversetzt in einem Blockheizkraftwerk (BHKW) „rückverstromen“. Die beim Betrieb des BHKWs entstehende Wärme fließt in das Nahwärmenetz. Eine weitere Wärmequelle ist der Elektrolyseur. Er produziert so viel Abwärme bei ca. 55 °C, dass der Grundbedarf zum Heizen und zur Warmwasserbereitung damit gedeckt werden kann.

 

Strom, Wärme, Mobilität – alles wird eins
Die Energieumwandlung „Power-to-Greengasto- Power&Heat“ ist komplexer als die Nutzung elektrischer Energie für Wärmepumpen oder Heizstäbe, aber das Konzept ist wahrscheinlich auch vielseitiger und aussichtsreicher. Nicht umsonst wird das Vorhaben „Neue Weststadt“ im Rahmen des Förderschwerpunktes „Solares Bauen/Energieeffiziente Stadt“ vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert.

 

Wasserstoff bietet Vorteile für das Energiesystem
Die Potenziale der Sektorkopplung mit grünem Wasserstoff hob Prof. Dr.-Ing. Manfred Norbert Fisch vom Steinbeis-Innovationszentrum Energie-, Gebäude- und Solartechnik (EGS) in einer  Pressemeldung der Stadt Esslingen hervor. Ziel sei, „die Funktionalität und Alltagstauglichkeit der Wasserstoffproduktion mit allen ihren Vorteilen für das Energiesystem auch auf der Ebene des Quartiers zu zeigen“.

 

Der Wasserstoffspeicher kann die lokale Stromproduktion vom Energieverbrauch entkoppeln und er kann netzdienlich sein, indem er zum Beispiel bei Stromüber- oder -unterangebot kompensierend eingreift oder zusammen mit den Batterien die Einspeisung von PV-Strom ins Netz verringert, wenn eine Netzüberlastung droht.

 

 

Grünen Wasserstoff sinnvoll vermarkten
„Einen großen Saisonspeicher für Wasserstoff können wir aus Platzgründen nicht aufstellen“, erläutert Manuel Thielmann, Experte für dezentrale Energieversorgung bei der Polarstern GmbH in München. Sein Team hat das innovative Energiekonzept für die Neue Weststadt ausgearbeitet. „Daher wird ein Überschuss an Wasserstoff in das Erdgasnetz eingespeist oder an die Industrie verkauft.“ Später soll ein Teil davon auch dem Verkehr zugutekommen. Eine Wasserstofftankstelle ist bereits geplant.

BHKW ist wirtschaftlicher als eine Brennstoffzelle
Primäres Ziel ist jedoch, den Wasserstoff vor Ort zu nutzen. Damit die Rückverstromung zu vertretbaren Kosten erfolgt, gaben die Verantwortlichen dem motorischen Wasserstoff- BHKW den Vorzug. Thielmann nennt den Grund: „Eine Brennstoffzelle hätte zwar einen höheren Anteil der im Gas enthaltenen Energie in Strom gewandelt, aber die Kosten pro installiertes Kilowatt sind vielfach höher als bei einem motorischen BHKW. Und wir hätten eine Brennstoffzelle dieser Leistungsklasse nicht aus Europa beziehen können.“

Die BHKW-Wärme sei gut vor Ort nutzbar, so dass ein hoher Gesamtwirkungsgrad erzielt werden könne, sagt Thielmann. „Wir richten den Blick ja nicht nur auf den Wirkungsgrad der Stromerzeugung, sondern wir optimieren das Energiesystem als Ganzes.“

Kälte aus Wärme steigert den Jahresnutzungsgrad
Zur effizienten Wärmenutzung trägt bei, dass auch die Klimakälte für die Universitätsgebäude und das Bürohochhaus mit Wärme erzeugt wird: Eine Absorptionskältemaschine soll die auf hohem Temperaturniveau anfallende BHKWAbwärme wirkungsvoll in Kälte umwandeln und komplettiert die Rückverstromungsanlage zu einer attraktiven Kraft-Wärme-Kälte-Kopplung.

BHKW von 2G arbeitet mit 100 % Wasserstoff
Nachdem die Entscheidung gegen die Brennstoffzelle und für ein Blockheizkraftwerk gefallen war, fiel die Wahl des Anbieters leicht. „Es gibt nur einen Hersteller in Europa, dessen BHKW die passenden Leistungen bieten und mit 100 % Wasserstoff betrieben werden können“, berichtet Thielmann und verweist auf 2G Energy. Zudem könnten die BHKW auch mit einem Wasserstoff-Ökogas-Gemisch oder reinem Ökogas arbeiten, sodass ein Betrieb auch bei Ausfall des Elektrolyseurs möglich sei. „Für 2G sprach außerdem die Tatsache, dass der Hersteller bereits Betriebserfahrungen mit reinem Wasserstoff nachweisen kann, zum Beispiel bei dem Projekt in Haßfurt“, ergänzt der Energieexperte.

Inbetriebnahme des BHKWs im Frühling 2021
Im Frühling 2021 soll das BHKW von 2G, ein agenitor 406, in der Neuen Weststadt in Betrieb gehen. Dank einer Schallschutzhaube wird das Betriebsgeräusch des Motors in den naheliegenden Wohnungen nicht zu hören sein. Mit Wasserstoff als Brennstoff liefert das BHKW etwa 150 kWel und 172 kWth Leistung, im Ökogas- Betrieb sind es 200 kWel und 206 kWth. Nur an kalten Wintertagen oder zum Beispiel bei BHKW-Wartungsarbeiten wird der in der Energiezentrale aufgestellte Spitzenlast-Gaskessel (1.200 kW) arbeiten müssen.

Das 2G BHKW wird so zu einer wesentlichen Komponente der Stadtteilversorgung, die sich in den kommenden Jahren beweisen soll. Die Energieexperten werden daher auch den Betrieb der Anlagen begleiten. „Polarstern, das Steinbeis-Innovationszentrum und die Stadt Esslingen haben die Betreibergesellschaft Green Hydrogen GmbH gegründet, die für die Energiezentrale verantwortlich ist“, erklärt Thielmann, der auch Geschäftsführer der neuen Gesellschaft ist. „Wir werden das Zusammenspiel der Komponenten und die Möglichkeiten des lokalen Ausgleichs genau studieren.“

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"Es gibt nur einen Hersteller in Europa, dessen BHKW die passenden Leistungen bieten und mit 100 % Wasserstoff betrieben werden können."

Manuel Thielmann | Polarstern GmbH

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